Ein Nachruf?
Man sagt mir immer wieder,
ich könne gut mit Worten umgehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich
tatsächlich gut mit Worten kann, aber diese Meinung sei jedem selbst
überlassen. Einer der, der extrem gut mit Worten konnte, ist
gestern, am 20.07.2017, von uns gegangen.
Ich kann dieses Mal gar
nicht in Worte fassen, wie schockiert und traurig ich bin. Und es ist
mir relativ gleichgültig, was ihr von diesen Worten haltet, denn ich
bin nur ein kleines Licht, das seine unwichtige Meinung abgibt, was
mir jedoch wirklich gleichgültig ist, jeder geht anders mit Trauer
und Verlust um. Ich kannte ihn nicht, meint ihr? Ich bin bloß ein
kleiner, unbedeutender Fan? Mag sein, aber auch das ist mir relativ
egal, jeder geht anders mit seiner Trauer um. Und ich denke, ich kann
mich gut in Chester Charles Bennington hineinfühlen, weil ich etwas
Ähnliches wie er durchgemacht hab. Gleiche oder recht ähnliche
Schicksale verbinden auf einer anderen Ebene, dafür muss ich
niemanden privat und persönlich supergut kennen.
Halbwegs informierte Fans
oder Interessenten wissen, dass Chester als Kind sexuell missbraucht
wurde. Die grausame Ironie ist, dass sein Vater ein Polizist im
Dezernat für (sexuellen) Kindesmissbrauch war/ist. Wie er das nicht
merken konnte? Tja, wer sich einen Scheiß für sein Kind
interessiert, der kriegt selbstverständlich nichts mit! Der
Missbrauch durch einen älteren männlichen Freund endete zwei Jahre
nach der Scheidung. Von Mutter und Vater, bei dem er lebte, im Stich
gelassen, wandte er sich früh den Drogen zu, bis er ein teilweises
Heil in der Musik, der Malerei und dem Texten fand.
Was aber noch weniger
wissen, ist, dass Chester sich nie wirklich dazugehörig fühlte.
Unglaublich, oder? Das hat nichts mit seiner Freundschaft zur Band
'Linkin Park' zu tun. Sein Ausgleich waren andere Projekte wie die
'Stone Temple Pilots', eine seiner Vorbilder, 'Dead by Sunrise' und
andere, teilweise einzelne Projekte. Darauf will ich nicht
herumreiten.
Was viele unterschätzen,
ist das, was die Erlebnisse in seiner Kindheit bei ihm hinterlassen
haben. In diversen Kommentaren, die ich gelesen habe, um meine eigene
Trauer zu verarbeiten, wird Chester angegriffen. Wie er nur seine
Kinder und seine Frau alleine lassen könne. Es sei egoistisch, sich
selbst umzubringen. Und selbst die Medien tun so, als seien seine
Traumata, Depressionen und alles plötzlich erst aufgedeckt worden.
Dass niemand vorher von seinen psychischen Problemen wusste. Den
Medien verzeihe ich es noch ein Stück weit, obwohl ich jeder
einzelnen zu gerne in die Fr**** schlagen würde, weil sie so einen
Müll nur der Schlagzeilen wegen, wegen Klicks und Geld verbreiten.
Ich kämpfe noch heute mit
Depressionen und anderem aus meiner eigenen verkorksten Kindheit.
Jeden Tag strauchel und kämpfe ich. Wusste keiner? Damit geht man
nicht hausieren. Ich will keinerlei Mitleid erheischen, genauso wie
Chester seine Depressionen und Traumata privat gehalten hat.
Vielleicht zu privat? Das weiß ich nicht. Alkohol und Drogen sind
ein Hilfeschrei, ein Versuch einer erfolglosen Selbsttherapie.
Egal, wie pathetisch,
schnulzig oder klischeehaft das klingt: Chester, seine Musik und
seine Texte waren meine Drogen. Als ich 13 war, war ich an einem
Tiefpunkt meines Lebens. Das Jahr 2002 war ein Jahr, in dem ich mehr
strauchelte als ein 'normaler' Teenager zu Beginn seiner Pubertät.
Eine damalige Klassenkameradin hatte mir damals das Album 'Hybrid
Theory' geliehen und meine musikalische Erweckung quasi initiiert.
Abgesehen davon, dass ich mich von dem typischen Boyband-Fangirlie zu
einer Rockröhre entwickelte und Metal und alles für mich entdeckte,
entdeckte ich Menschen, die (scheinbar) mit denselben Problemen zu
kämpfen hatten wie ich. Damals war mein Englisch mieser als es jetzt
ist, weshalb ich mich mit Übersetzungen zufrieden geben musste, die,
wie jeder weiß, bloß bedingt nutzbar sind. Trotzdem fassten Chester
und Mike das in Worte, für das ich damals keine Worte fand. Die
Texte gaben mir eine nötige Kraft, von der ich nicht für möglich hielt,
dass ich sie besaß, denn sie sprachen mir aus der Seele. Und je mehr
ich mich mit der Band und ihren Mitgliedern befasste, desto mehr
erkannte ich mich in ihm wieder: Misshandlungen, emotionale
Vernachlässigung, elterliches Desinteresse. Obgleich Chester eine
für mich völlig unerreichbare Person ist und war, fühlte ich mich
ihm auf eine andere Art und Weise verbunden, die die Wenigsten jemals
nachvollziehen können.
Depressionen sind eine
ernstzunehmende Krankheit. Die Welle, die sein Tod jetzt schlägt,
wird genauso in einigen Tagen wieder abgeflaut sein. Menschen wie wir
werden unwillkürlich wieder in der Versenkung verschwinden, weil
anderes wichtiger sein wird. Das mag sein, dennoch möchte ich die,
die nicht bloß heucheln, sich plötzlich mit Depressionen zu
beschäftigen, und sonst wie empathisch tun: Hört niemals damit auf!
Menschen wie Chester und ich brauchen euch!
Wir lächeln nach außen
hin, wir wirken zufrieden und auf eine gewisse Weise glücklich. Wir
weisen eine intakte (neue) Familie auf, scheinen gesund und stabil zu
sein, aber niemand kann wissen, wie es wirklich in uns aussieht, wenn
er nur einen flüchtigen, oberflächlichen Blick auf uns wirft. Ein
Problem der heutigen Gesellschaft, die Oberflächlichkeit. Keiner
ahnt, dass eine Kleinigkeit einen Menschen wie uns völlig aus der
Bahn werfen kann, emotional gesehen.
Mein 20.07.2017 war ein
beschissener Tag für mich, ich fühlte mich elend und hatte den Tag
innerlich abgehakt, als ich die Nachricht von Chesters Tod durch eine
gute Freundin erfuhr. Ich schrie und wollte es nicht glauben, bis ich
es bestätigt sah, exakt 44 Minuten nach der ersten Pressemeldung.
Trotz meines gefestigten Umfeldes, meiner Therapeutin und meiner
Familie fühle ich mich heute, einen Tag später, kaum besser. Ich
stehe neben mir, ich weiß nicht, wie ich das verarbeiten soll. So
musste sich Chester gefühlt haben, als er vom Tod seines besten
Freundes Chris Cornell erfahren hatte. Chris war unter anderem Sänger
von Audioslave und Soundgarden und einer der besten Freunde. Wenn es
Chester nur ansatzweise wie mir geht, kann ich es nachvollziehen.
Nicht einmal eine intakte Familie hat es leicht, einen depressiven
Menschen emotional aufzufangen. Wer weiß, was in Chesters Familie
vor sich ging, er hielt es ja berechtigterweise größtenteils
privat. Und wer weiß, ob Chester einen Therapeuten wie ich an seiner
Seite hatte, der ihm half. Pauschal kann eh niemand was sagen. Ich
bin mir nicht sicher, ob Chris' Tod der ausschlaggebende Punkt war,
obwohl Chris' Geburtstag am 20.07. gewesen wäre, er wäre 53
geworden. Vielleicht war auch etwas anderes der ausschlaggebende
Punkt gewesen. Es gibt Tage, da ist die Psyche so fragil wie
hauchdünnes Glas, sie zerbricht bei Kleinigkeiten wie einem bockigen
Kind. Ich kenne das selber, wenn mein Kind nicht vom Spielplatz
nach Hause will und bockig wird, möchte ich manchmal losheulen wie
ein Schlosshund. Am liebsten rollte ich mich in einer Ecke zu einem
Ball oder in Fötus-Stellung zusammen und möchte nur noch weinen,
weil der Knirps bockt. Und so kann selbst ein kleiner Streit mit Mike
der letzte Funke gewesen sein, oder tatsächlich der Tod von Chris.
Das weiß im Zweifelsfall nur Chester selbst, und das ist gut so.
Man sagt, es gibt für
alles eine Lösung. Selbst ich bin der Meinung, dass es für nahezu
alles Hilfe gibt. Niemand muss alleine mit dem fertig werden, was
einem widerfährt. Niemand ist schwach, wenn er sich Hilfe holt.
Allerdings, manchmal, ist, wie eine Freundin sagte, in einem Menschen
zu viel kaputt, als dass es repariert werden kann. Menschen sind, wie
Tim Benzko richtig festhielt, eben keine Maschinen, und auch Maschinen
sind irgendwann zu kaputt, sodass man sie nicht mehr reparieren kann.
Ich möchte Suizide bestimmt nicht befürworten! Aber unbeachtet
dessen ist das Leben leider doch zu schwer und der Freitod trotz
Familie und allem die beste Lösung. Es ist keine Feigheit und kein
Egoismus! Wer das sagt, der weiß schlichtweg nicht, was Depressionen
sind und wie sich die Menschen fühlen! Nicht alles lässt sich durch
Pillen und Gespräche 'reparieren'!
Informiert euch und
verbringt den Tag mit Menschen wie Chester und mir! Eure
Stammtisch-Parolen sind ein Schlag in die Fr**** jedes depressiven
Menschen und für mich ein Armutszeugnis dieser oberflächlichen
Gesellschaft!
Gestern, am 20.07.2017,
ist nach ziemlich genau 15 Jahren meine kleine, unbedeutende Welt in
sich zusammengebrochen und liegt in Millionen Teile zerschmettert da.
Ich werde sie mühselig wieder zusammenflicken können, genauso wie
'Linkin Park', 'Dead by Sunrise' und Chesters Familie und weitere
Angehörige, deren Leben er berührt und beeinflusst hat. Dass die
Zeit alle Wunden heilt, bestätige ich nur bedingt, denn es gibt
Wunden, die kann keine Zeit der Welt jemals heilen. Es tut bloß nach
einiger Zeit weniger weh und blutet weniger.
Ich weiß, dass die
Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus Chesters Umfeld oder gar andere
Fans das hier lesen werden, gleich 0 ist, außer, man teilt diesen
Text, aber das ist mir egal. Rest in Peace, Chester Charles
Bennington, ich hoffe, du hast da, wo du nun bist, deinen Frieden
gefunden, den du hier anscheinend nie finden konntest.
I tried so hard and got so
far
But in the end it doesn't even matter
I had to fall to lose
it all
But in the end it doesn't even matter
Als ich mich so sehr
bemüht habe, so weit gekommen bin
Doch letztendlich ist es nicht
mal von Bedeutung
Ich musste hinfallen, alles verlieren
Doch
letztendlich ist es nicht mal von Bedeutung