Freitag, 21. Juli 2017

Ein Nachruf?

Ein Nachruf?


Man sagt mir immer wieder, ich könne gut mit Worten umgehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich gut mit Worten kann, aber diese Meinung sei jedem selbst überlassen. Einer der, der extrem gut mit Worten konnte, ist gestern, am 20.07.2017, von uns gegangen.

Ich kann dieses Mal gar nicht in Worte fassen, wie schockiert und traurig ich bin. Und es ist mir relativ gleichgültig, was ihr von diesen Worten haltet, denn ich bin nur ein kleines Licht, das seine unwichtige Meinung abgibt, was mir jedoch wirklich gleichgültig ist, jeder geht anders mit Trauer und Verlust um. Ich kannte ihn nicht, meint ihr? Ich bin bloß ein kleiner, unbedeutender Fan? Mag sein, aber auch das ist mir relativ egal, jeder geht anders mit seiner Trauer um. Und ich denke, ich kann mich gut in Chester Charles Bennington hineinfühlen, weil ich etwas Ähnliches wie er durchgemacht hab. Gleiche oder recht ähnliche Schicksale verbinden auf einer anderen Ebene, dafür muss ich niemanden privat und persönlich supergut kennen.

Halbwegs informierte Fans oder Interessenten wissen, dass Chester als Kind sexuell missbraucht wurde. Die grausame Ironie ist, dass sein Vater ein Polizist im Dezernat für (sexuellen) Kindesmissbrauch war/ist. Wie er das nicht merken konnte? Tja, wer sich einen Scheiß für sein Kind interessiert, der kriegt selbstverständlich nichts mit! Der Missbrauch durch einen älteren männlichen Freund endete zwei Jahre nach der Scheidung. Von Mutter und Vater, bei dem er lebte, im Stich gelassen, wandte er sich früh den Drogen zu, bis er ein teilweises Heil in der Musik, der Malerei und dem Texten fand.
Was aber noch weniger wissen, ist, dass Chester sich nie wirklich dazugehörig fühlte. Unglaublich, oder? Das hat nichts mit seiner Freundschaft zur Band 'Linkin Park' zu tun. Sein Ausgleich waren andere Projekte wie die 'Stone Temple Pilots', eine seiner Vorbilder, 'Dead by Sunrise' und andere, teilweise einzelne Projekte. Darauf will ich nicht herumreiten.

Was viele unterschätzen, ist das, was die Erlebnisse in seiner Kindheit bei ihm hinterlassen haben. In diversen Kommentaren, die ich gelesen habe, um meine eigene Trauer zu verarbeiten, wird Chester angegriffen. Wie er nur seine Kinder und seine Frau alleine lassen könne. Es sei egoistisch, sich selbst umzubringen. Und selbst die Medien tun so, als seien seine Traumata, Depressionen und alles plötzlich erst aufgedeckt worden. Dass niemand vorher von seinen psychischen Problemen wusste. Den Medien verzeihe ich es noch ein Stück weit, obwohl ich jeder einzelnen zu gerne in die Fr**** schlagen würde, weil sie so einen Müll nur der Schlagzeilen wegen, wegen Klicks und Geld verbreiten.

Ich kämpfe noch heute mit Depressionen und anderem aus meiner eigenen verkorksten Kindheit. Jeden Tag strauchel und kämpfe ich. Wusste keiner? Damit geht man nicht hausieren. Ich will keinerlei Mitleid erheischen, genauso wie Chester seine Depressionen und Traumata privat gehalten hat. Vielleicht zu privat? Das weiß ich nicht. Alkohol und Drogen sind ein Hilfeschrei, ein Versuch einer erfolglosen Selbsttherapie.

Egal, wie pathetisch, schnulzig oder klischeehaft das klingt: Chester, seine Musik und seine Texte waren meine Drogen. Als ich 13 war, war ich an einem Tiefpunkt meines Lebens. Das Jahr 2002 war ein Jahr, in dem ich mehr strauchelte als ein 'normaler' Teenager zu Beginn seiner Pubertät. Eine damalige Klassenkameradin hatte mir damals das Album 'Hybrid Theory' geliehen und meine musikalische Erweckung quasi initiiert. Abgesehen davon, dass ich mich von dem typischen Boyband-Fangirlie zu einer Rockröhre entwickelte und Metal und alles für mich entdeckte, entdeckte ich Menschen, die (scheinbar) mit denselben Problemen zu kämpfen hatten wie ich. Damals war mein Englisch mieser als es jetzt ist, weshalb ich mich mit Übersetzungen zufrieden geben musste, die, wie jeder weiß, bloß bedingt nutzbar sind. Trotzdem fassten Chester und Mike das in Worte, für das ich damals keine Worte fand. Die Texte gaben mir eine nötige Kraft, von der ich nicht für möglich hielt, dass ich sie besaß, denn sie sprachen mir aus der Seele. Und je mehr ich mich mit der Band und ihren Mitgliedern befasste, desto mehr erkannte ich mich in ihm wieder: Misshandlungen, emotionale Vernachlässigung, elterliches Desinteresse. Obgleich Chester eine für mich völlig unerreichbare Person ist und war, fühlte ich mich ihm auf eine andere Art und Weise verbunden, die die Wenigsten jemals nachvollziehen können.

Depressionen sind eine ernstzunehmende Krankheit. Die Welle, die sein Tod jetzt schlägt, wird genauso in einigen Tagen wieder abgeflaut sein. Menschen wie wir werden unwillkürlich wieder in der Versenkung verschwinden, weil anderes wichtiger sein wird. Das mag sein, dennoch möchte ich die, die nicht bloß heucheln, sich plötzlich mit Depressionen zu beschäftigen, und sonst wie empathisch tun: Hört niemals damit auf! Menschen wie Chester und ich brauchen euch!
Wir lächeln nach außen hin, wir wirken zufrieden und auf eine gewisse Weise glücklich. Wir weisen eine intakte (neue) Familie auf, scheinen gesund und stabil zu sein, aber niemand kann wissen, wie es wirklich in uns aussieht, wenn er nur einen flüchtigen, oberflächlichen Blick auf uns wirft. Ein Problem der heutigen Gesellschaft, die Oberflächlichkeit. Keiner ahnt, dass eine Kleinigkeit einen Menschen wie uns völlig aus der Bahn werfen kann, emotional gesehen.
Mein 20.07.2017 war ein beschissener Tag für mich, ich fühlte mich elend und hatte den Tag innerlich abgehakt, als ich die Nachricht von Chesters Tod durch eine gute Freundin erfuhr. Ich schrie und wollte es nicht glauben, bis ich es bestätigt sah, exakt 44 Minuten nach der ersten Pressemeldung. Trotz meines gefestigten Umfeldes, meiner Therapeutin und meiner Familie fühle ich mich heute, einen Tag später, kaum besser. Ich stehe neben mir, ich weiß nicht, wie ich das verarbeiten soll. So musste sich Chester gefühlt haben, als er vom Tod seines besten Freundes Chris Cornell erfahren hatte. Chris war unter anderem Sänger von Audioslave und Soundgarden und einer der besten Freunde. Wenn es Chester nur ansatzweise wie mir geht, kann ich es nachvollziehen. Nicht einmal eine intakte Familie hat es leicht, einen depressiven Menschen emotional aufzufangen. Wer weiß, was in Chesters Familie vor sich ging, er hielt es ja berechtigterweise größtenteils privat. Und wer weiß, ob Chester einen Therapeuten wie ich an seiner Seite hatte, der ihm half. Pauschal kann eh niemand was sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob Chris' Tod der ausschlaggebende Punkt war, obwohl Chris' Geburtstag am 20.07. gewesen wäre, er wäre 53 geworden. Vielleicht war auch etwas anderes der ausschlaggebende Punkt gewesen. Es gibt Tage, da ist die Psyche so fragil wie hauchdünnes Glas, sie zerbricht bei Kleinigkeiten wie einem bockigen Kind. Ich kenne das selber, wenn mein Kind nicht vom Spielplatz nach Hause will und bockig wird, möchte ich manchmal losheulen wie ein Schlosshund. Am liebsten rollte ich mich in einer Ecke zu einem Ball oder in Fötus-Stellung zusammen und möchte nur noch weinen, weil der Knirps bockt. Und so kann selbst ein kleiner Streit mit Mike der letzte Funke gewesen sein, oder tatsächlich der Tod von Chris. Das weiß im Zweifelsfall nur Chester selbst, und das ist gut so.

Man sagt, es gibt für alles eine Lösung. Selbst ich bin der Meinung, dass es für nahezu alles Hilfe gibt. Niemand muss alleine mit dem fertig werden, was einem widerfährt. Niemand ist schwach, wenn er sich Hilfe holt. Allerdings, manchmal, ist, wie eine Freundin sagte, in einem Menschen zu viel kaputt, als dass es repariert werden kann. Menschen sind, wie Tim Benzko richtig festhielt, eben keine Maschinen, und auch Maschinen sind irgendwann zu kaputt, sodass man sie nicht mehr reparieren kann. Ich möchte Suizide bestimmt nicht befürworten! Aber unbeachtet dessen ist das Leben leider doch zu schwer und der Freitod trotz Familie und allem die beste Lösung. Es ist keine Feigheit und kein Egoismus! Wer das sagt, der weiß schlichtweg nicht, was Depressionen sind und wie sich die Menschen fühlen! Nicht alles lässt sich durch Pillen und Gespräche 'reparieren'!
Informiert euch und verbringt den Tag mit Menschen wie Chester und mir! Eure Stammtisch-Parolen sind ein Schlag in die Fr**** jedes depressiven Menschen und für mich ein Armutszeugnis dieser oberflächlichen Gesellschaft!



Gestern, am 20.07.2017, ist nach ziemlich genau 15 Jahren meine kleine, unbedeutende Welt in sich zusammengebrochen und liegt in Millionen Teile zerschmettert da. Ich werde sie mühselig wieder zusammenflicken können, genauso wie 'Linkin Park', 'Dead by Sunrise' und Chesters Familie und weitere Angehörige, deren Leben er berührt und beeinflusst hat. Dass die Zeit alle Wunden heilt, bestätige ich nur bedingt, denn es gibt Wunden, die kann keine Zeit der Welt jemals heilen. Es tut bloß nach einiger Zeit weniger weh und blutet weniger.
Ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus Chesters Umfeld oder gar andere Fans das hier lesen werden, gleich 0 ist, außer, man teilt diesen Text, aber das ist mir egal. Rest in Peace, Chester Charles Bennington, ich hoffe, du hast da, wo du nun bist, deinen Frieden gefunden, den du hier anscheinend nie finden konntest.


I tried so hard and got so far
But in the end it doesn't even matter
I had to fall to lose it all
But in the end it doesn't even matter

Als ich mich so sehr bemüht habe, so weit gekommen bin
Doch letztendlich ist es nicht mal von Bedeutung
Ich musste hinfallen, alles verlieren
Doch letztendlich ist es nicht mal von Bedeutung

(Songtext „In the End“, Album 'Hybrid Theory', Quelle: http://www.songtexte.com/songtext/linkin-park/in-the-end-73d69641.html )